Fachtagung des Kompetenzzentrums GreenShipping Niedersachsen beleuchtet Katastrophenschutz auf hoher See

30.09.2024

Der brennende Holzfrachter Pallas, der 1998 nach tagelanger Irrfahrt vor Amrum strandete. Die 342 Container, die in einem Herbststurm 2019 von Bord des Containerfrachters MSC Zoe in die Nordsee stürzten. Der ausgebrannte Autotransporter Freemantle Highway in der Deutschen Bucht. Die Kollision der Frachter Verity und Polesie, bei der im Oktober 2023 fünf Seeleute ums Leben kamen. Solche Nachrichten und die dazugehörigen Bilder schrecken die Öffentlichkeit auf. Aber die deutsche Küste ist gut gewappnet, die Folgen von Schiffskollisionen, verlorenen Containern oder Ölverschmutzungen zu begrenzen. Dieses Fazit haben Fachleute zum Abschluss der Tagung „Havarien in der Schifffahrt: Wer den Schaden hat…“ in der Jade Hochschule in Elsfleth gezogen.

Keine Frage: Das Risiko für schwere Zwischenfälle auf hoher See wächst. Als Vorsitzender des Unterausschusses „Häfen und Schifffahrt“ im niedersächsischen Landtag hat sich Nico Bloem vielfach mit diesem Thema auseinandergesetzt. Seine Erkenntnis: Die verstärkte Nutzung von Nord- und Ostsee für die Offshore-Windkraft lässt den Bewegungsspielraum für die Schifffahrt schrumpfen. Energieträger wie Öl und Flüssiggas werden zunehmend in Schiffen transportiert – mit entsprechenden Risiken für die Umwelt. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wachsen auch die Gefährdungen für die kritische Infrastruktur auf und unter Wasser in Westeuropa. Die Überfälle der Huthi-Rebellen im Jemen auf die Zufahrten zum Suez-Kanal zwingen die internationale Schifffahrt zudem zum langen und gefährlichen Umweg um das Kap der guten Hoffnung. „Wir stehen vor großen Herausforderungen, die wir mit viel Fantasie, neuen Technologien und mutigen Entscheidungen meistern müssen“, sagte Nico Bloem zum Auftakt der Tagung des Kompetenzzentrums GreenShipping Niedersachsen. Das Engagement für mehr Sicherheit lohnt sich aus seiner Sicht auf jeden Fall, auch wenn das Ergebnis unspektakulär wirkt: „Wenn wir die nötigen Ressourcen mobilisieren und alles richtig machen, ist unser größter Erfolg, dass nichts passiert.“

Allerdings teilt nicht jeder die Auffassung des Landespolitikers, dass sich die Risiken auf hoher See mit Engagement, Technik und guter Organisation in Grenzen halten lassen. Als Sprecher der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste (SDN) bringt Peter Andryszak die Sorgen der Kommunen und Landkreise entlang der Küste in einer Frage auf den Punkt: „Müssen wirklich 400 Meter lange Containerschiffe bis nach Hamburg fahren? Geht es nicht auch mit kleineren Schiffen?“ Der Schutzgemeinschaft geht es nicht um einzelne Gefahrenaspekte wie verlorene Container oder havarierte Schiffe: „Uns geht es um den Lebensraum Nordsee als Ganzes“, betont Andryszak. Seit mittlerweile 50 Jahren steht die SDN partei- und organisationsübergreifend für diesen Anspruch ein. Nach dem Pallas-Unglück forderte die Schutzgemeinschaft nachdrücklich die Schaffung einer einheitlichen Küstenwache, um das Zuständigkeitswirrwarr zu beenden, in dem der brennende Frachter gestrandet war.

Eine Küstenwache mit Polizeigewalt sowie eigenen Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern nach dem Vorbild der US-amerikanischen Coast Guard gab es anschließend in Deutschland nicht. Stattdessen verständigten sich die fünf Küstenländer und der Bund auf das „Havariekommando“, dass bei komplexen Schadenlagen auf See alle Fäden in der Hand hält und auch über die Kompetenzen anderer Behörden und Dienststellen des Bundes und der Länder hinweg weisungsbefugt ist. Die zentrale Einheit aus 50 Fachkräften, die 24/7 einsatzbereit ist, hat sich bewährt – daran hatte niemand während der Fachtagung Zweifel. Das mag auch an der pragmatischen Grundhaltung liegen. Offiziell ist eine „komplexe Schadenslage“ die Voraussetzung, dass das Kommando aktiv werden kann. „Im Zweifelsfall fragen wir nicht, ob wir zuständig sind, sondern machen erst einmal“, betonte der Sprecher des Havariekommandos, Dr. Benedikt Spangardt. Das Selbstbewusstsein hat eine solide Basis. Dank klarer gesetzlicher Grundlagen, einer engen Zusammenarbeit mit allen notwendigen Partnern an Land und eines ständigen Trainings mit ihnen ist das Havariekommando bestens für den Ernstfall aufgestellt, zeigte sich Spangardt überzeugt.

Die Kollision der Frachter Verity und Polesie im vergangenen Oktober in der Deutschen Bucht ist für Spangardt ein deutliches Beispiel, wie unvermittelt Katastrophen geschehen können. An jenem Morgen war das AIS-Signal der Verity plötzlich von den Radarschirmen verschwunden, berichtete Spangardt. Die Revierzentrale schlug als erste Stelle Alarm. Binnen kürzester Zeit lief eine große Hilfsmaschinerie aus Seenotrettungskreuzern, Behördenschiffen, Marine- und Bundespolizeihubschrauber und sogar einem Kreuzfahrtschiff an. Tagelang beherrschte das Unglück die Schlagzeilen.

Die Öffentlichkeit bekommt nach Überzeugung von Tagungsteilnehmern allerdings schnell einen verzerrten Eindruck von den tatsächlichen Gefahren auf hoher See. Denn anders als durch Medienberichte suggeriert, ist Seefahrt ziemlich sicher. 2023 wurden weltweit lediglich 26 Totalverluste von Fracht- oder Passagierschiffen registriert, erläuterte Prof. Dr. Klaus H. Holocher aus dem Fachbereich Seefahrt und Logistik der Jade Hochschule. Allerdings wurden mehr als 7000 Unfälle verzeichnet, die das Havariekommando vermutlich in die Kategorie der komplexen Schadenslagen eingeordnet hätte. Anders als es das Medienecho über den Verlust von 342 Containern von Bord der MSC Zoe vor fünf Jahren bei stürmischem Wetter vor den ostfriesischen Inseln vermuten lässt, spielen Container in den offiziellen Unfallstatistiken der Schiffsversicherer nur selten eine besondere Rolle. Laut Holocher gingen 2023 weltweit lediglich 221 Container über Bord – bei 250 Millionen Containern, die per Schiff weltweit in dem Jahr transportiert wurden. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Statistiken ein falsches Bild bieten. Nicht überall auf der Welt wird das Geschehen so aufmerksam von Behörden und Öffentlichkeit verfolgt wie in den europäischen oder US-amerikanischen Gewässern.

Dass über Bord gegangene Container sowohl ein Sicherheitsrisiko für die Schifffahrt selbst als auch eine Umweltgefahr darstellen, war die Initialzündung für verschiedene auf der Tagung präsentierte Technologie-Projekte. An der Jade Hochschule befasst sich ein Team um Prof. Dr.-Ing. Christian Denker mit der Entwicklung eines Funksystems zur Ortung von auf See verlorenen Containern. Der niederländische Ingenieur Michiel Gunsing hat mit dem Ansatz „Vorbeugen“ ein Frühwarnsystem entwickelt. Im Schiffsrumpf installierte Sensoren messen die Bewegungen eines Frachters in schwerer See. Über eine Analyse der Staupläne und Ladungsinformationen kann das System die Schiffsführung auf besonders gefährdete Ladungsteile aufmerksam machen, die sich beispielsweise aus ihren Verankerungen lösen und andere Ladungsbehälter mitreißen könnten.

Aber reichen solche Systeme aus, die Folge einer Havarie zu begrenzen oder womöglich ein Unglück ganz zu verhindern? Götz Anspach von Broecker hat da beruflich begründete Zweifel. Er arbeitet im Bereich Research & Technology bei AIRBUS Defence and Space GmbH in Bremen. „In der Luftfahrt wäre ein technisches Versagen wie ein Blackout auf einem Schiff undenkbar.“ Beim Flugzeugbau gibt es für jede Schraube, für jedes Verfahren eine international vereinbarte Norm, müssen Prozesse und Produktionsschritte genauestens dokumentiert und geprüft werden. Doch in der Schifffahrt wäre ein derart strenges international für alle Player geltendes Regelwerk in dem komplexen System der International Maritime Organisation kaum oder nur äußerst mühsam durchsetzbar.

Doch auch ohne ein solches Regelwerk könnte moderne Satelliten-Technologie wesentliche Beiträge zur Sicherheit des Schiffsverkehrs zum Beispiel in der Nordsee leisten. Von Broecker verdeutlichte dies auf der Tagung an einem konkreten Beispiel: Derzeit hat die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ganzjährig ein Spezialschiff im Einsatz, um die rund 450 Lateral- und Kardinaltonnen entlang der Hauptschifffahrtswege in der Deutschen Bucht zu überprüfen und gegebenenfalls in Stand zu setzen. Statt dieses Schiff wochenlang auf Kontrollfahrt zu schicken, ließen sich Position und ggf. Wartungsbedarf binnen weniger Stunden mit Hilfe von tagesaktuellen Satellitenbildern überprüfen.

Für die Detailprüfung könnten dann Drohnen zum Einsatz kommen, auf deren Entwicklung und Kontrolle sich der Bremer Unternehmer Harald Rossol spezialisiert hat. Sein Unternehmen b.r.m. IT & Aerospace GmbH ist unter anderem Praxis-Pionier der künftigen Flugzonen-Überwachung für unbemannte Fluggeräte. Rossol ist für den Luftraum über den Ostfriesischen Inseln sowie weiten Teilen der Deutschen Bucht – insgesamt etwa 3600 Quadratkilometer Fläche – zuständig. In der gemeinsam mit von Broecker entwickelten Projektskizze kommen Rossols Drohnen für die genauere Überprüfung zum Einsatz, wenn die Satellitenbilder Auffälligkeiten bei einzelnen Fahrwassertonnen gezeigt haben. Der Auftritt der beiden bei der Tagung war erfolgreich: Die anwesenden Landespolitiker signalisierten ihr Interesse an dem von Rossol und von Broecker vorgeschlagenen Reallabor an der Jade Hochschule, in dem konkrete Einsatzprojekte entwickelt werden können.

„Aus Schaden wird man klug“, kommentierte Prof. Dr. Iven Krämer (Deutsche Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft, Deutscher Nautischer Verein) die Entwicklung der Sicherheitsmaßnahmen in der Deutschen Bucht seit dem Pallas-Unglück vor 26 Jahren. Das A und O im Havariemanagement sei aber nicht die Technik, sondern der Faktor Mensch, betonte Krämer in der abschließenden Podiumsdiskussion. Zudem müssten sich die Verantwortlichen in der Schifffahrt und an Land auf immer neue Gefahren wie beispielsweise die wachsende Zahl von Extremwetterlagen und die aktuellen Kriege und Auseinandersetzungen in der Welt einstellen. Grundsätzlich zog der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Nautischen Vereins von 1868 aber ein optimistisches Fazit: „Schifffahrt ist per se eine sichere Sache.“

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